Große Brennnessel (Urtica dioica L. 1753)
Allgemeines
Die ältesten fossilen Nachweise der ureinheimischen Pflanze stammen aus dem Späten Atlantikum (vor ca. 6000 Jahren). Brennnesseln wurden bereits im 3. Jahrtausend vor Christus verwendet, wie Überreste in neolithischen Pfahlbauten zeigen.
Die deutsche Teilbezeichnung „Nessel“geht auf das Althochdeutsche „nezzila“zurück. Es bedeutet „Netz“ und bezieht sich auf die Fasergewinnung für Nesseltuch. Brennnessel heißt die Pflanze wegen des brennenden Gefühls, das sie bei Berührung verursacht. Andere Bezeichnungen sind Hanfnessel, Donnernessel, Estekraut, Feuerkraut, Gischtrute, Große Nedel, Saunessel, Senznessel, Tausendnessel, Teufelskraft, Tissel, Tittenkölbl, Zingel.
Der lateinische Name Urtica kommt von „urere“ = „brennen“. Die Artbezeichnung „dioica“ bedeutet zweihäusig, d.h. es gibt männliche und weibliche Pflanzen.
Man unterscheidet zwei Unterarten: Urtica dioica ssp. dioica stellt die geläufige Art dar. Urtica dioica ssp. subinermis ist eher in submediterranen Gebieten verbreitet und hat keine Brennhaare.
Morphologie und Fortpflanzung
Die zweihäusige, ausdauernde, krautige Pflanze hat einen aufrechten, unverzweigten vierkantigen Stängel mit einem Durchmesser von 3 – 5 mm. Sie kann bis 2m hoch werden und bis zu 0,7m tief wurzeln. Der Wurzelstock ist stark verzweigt.
Die Blätter stehen gegenständig, sind deutlich gestielt und haben herzförmige Spreiten, die oberseits matt dunkelgrün, unterseits behaart sind. Sie sind bis 20cm lang und haben einen gesägten Blattrand.
An Blättern und Stängeln findet man mit Kieselsäure verstärkte Brennhaare, daneben auch Borsten- und Drüsenhaare. Die langen hohlen Brennhaare haben eine glasartig spröde Wandstruktur. Bei Berührung bricht das Haar im vorderen Bereich leicht ab und dringt mit der Spitze in die Haut ein. Dabei wird der Inhalt des Haares in die Haut injiziert. Quaddeln mit Juckreiz und Brennen sind die bekannten unangenehmen Folgen.
Bei beiden Geschlechtern bilden die Blüten Rispen aus. Die weiblichen Rispen hängen, die männlichen stehen aufrecht. Die radiärsymmetrischen Einzelblüten haben vier Perigon(= Blüten-)blätter, die unscheinbar grün oder bräunlich gefärbt sind. Weibliche Blüten weisen zwei schmälere längere und zwei kürzere breitere Perigonblätter auf. Bei männlichen Blüten sind die Perigonblätter gleich lang. Die großen pinselförmigen Narben der oberständigen Fruchtknoten am Ende der weiblichen Blüten weisen darauf hin, dass bei diesen Pflanzen Windbestäubung erfolgt. Die vier Staubgefäße jeder männlichen Blüte sind zunächst eingebogen und richten sich beim Öffnen ruckartig auf, wodurch der Blütenstaub ausgestreut wird. Die Frucht stellt eine kleine einsamige Nuss dar.
Verbreitung und Ökologie
Die Große Brennnessel kommt ursprünglich in der Nordhälfte der Erde vor. Die tropischen Gebiete und die Arktis wurden und werden gemieden. Heute ist die Brennnessel ein typischer Kosmopolit und fast über die ganze Erde verbreitet.
Die ursprüngliche Ufersaum- und Auenverlichtungspflanze findet man auf feuchten bis frischen, mineralstoffreichen, lockeren, humosen Ton- und Lehmböden. Besonders verbreitet ist sie heute im Umkreis dörflicher Siedlungen an Wegen, Schuttplätzen, Gräben und Waldsäumen. Die stickstoffanzeigende Pflanze wird durch Eutrophierung und Entwässerung vor allem im Saum von Auwäldern stark gefördert. Selbst auf lange verlassenen Wohn- und Lagerstätten von Vieh und Mensch kann man noch Brennnesseln finden.
Brennnesseln blühen von Juli bis September. Die Früchte reifen von September bis November. Sie können mit dem Wind als Ballon- oder Flügelflieger, schwimmend oder als Anhafter über Tiere verbreitet werden. Die Samenkeimung erfolgt erst nach einer Frostperiode.
Zahlreiche Schmetterlingsarten ernähren sich von der Großen Brennnessel. Am bekanntesten unter ihnen sind die monophagen Raupen von Kleinem Fuchs und Tagpfauenauge. Drei ebenfalls monophage Rüsselkäferlarven nutzen unterschiedliche ökologische Nischen der Brennnessel: Der Gehörnte Nesselrüssler lebt im Stängel, der Brennnesselspitzmausrüssler in den Stängelknoten und der Gefleckte Brennnesselrüssler in den Wurzeln.
Daneben existieren zahlreiche oligo- und polyphage Insekten und Insektenlarven, die ebenfalls zumindest zeitweise die Große Brennnessel nutzen.
Auffallend gelborange raupenförmige Fruchtkörper bildet der Rostpilz Puccinia urticate an seinem Zwischenwirt Brennnessel.
Verwendung in Pflanzenheilkunde und Kosmetik
Die Brennnessel gehört zu den wichtigsten allgemein gesundheitsfördernden Mitteln, da sie viele Vitamine enthält ( vor allem Vitamin C und Provitamin A). Der außergewöhnlich hohe Gehalt ( bis 20%) an Mineralsalzen wie Kalium, Calcium, Magnesium, Eisen und Nitrat macht die Pflanze für die Naturheilkunde besonders wertvoll. Die sanfte Wirkung als stoffwechselanregendes, blutreinigendes und harntreibendes Mittel wird sehr geschätzt.
Für die schmerzlindernde, adstringierende und entzündungshemmendeWirkung sind unter anderem Caffeoyl-Chinasäuren und Gerbstoffe verantwortlich. So verwendete man noch bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges Brennnesseln zum Verbinden infizierter Wunden.
Auch leichtere Erkrankungen der Atmungsorgane und des Magen-Darmtraktes können mit Präparaten aus Brennnesseln behandelt werden.
Wurzelextrakte erleichtern das Harnablassen bei Männern mit einer vergrößerten Prostata.
Aus der Volksmedizin bekannt sind die
- Anregung des Milchflusses bei Stillenden
- Erleichterung von Wechseljahrbeschwerden
- Behandlung von Hautausschlägen, Allergien, Haarausfall, Osteoporose, Blutarmut und Erschöpfung, sowie Skorbut.
Man verwendet Brennnesseln in Form von frischen oder getrockneten Blättern (Urticae folium), getrocknetes Brennnesselkraut (Urticae herba) und getrocknete Wurzeln (Urticae radix) in Tees, Extrakten oder Fertigpräparaten.
Brennnesselextrakte findet man auch in Shampoozusätzen, Haarwässern und Haarwuchsmitteln, da die Durchblutung des Haarbodens gefördert wird.
Die Brennnessel war die Heilpflanze des Jahres 1996. Im Jahr 2022 wurde sie erneut mit diesem Titel versehen.
Verwendung in der Küche
Die protein-, vitamin- und mineralstoffreichen Blätter werden gerne gekocht als „Spinat“ oder roh als Salat gegessen. Man verwendet dazu bevorzugt junge Triebe.
In Nord- und Osteuropa geniesst man im Frühling Brennnesselsuppe.
In Südeuropa wird gerne Pesto aus Brennnesseln hergestellt und z.B. zu Polenta gegeben.
Manche Käsesorten und Pürees enthalten Brennnesseln als Zusatz. Variationen von Börek-Teigtaschen mit Brennnesseln als würziger Zutat sind überaus geschätzte Gerichte in der Küche des Balkans.
Geröstete Brennnesselfrüchte enthalten wertvolles Öl und werden gern als Knabbersnack gereicht.
Weitere Verwendungsmöglichkeiten
Bis ins 18. Jahrhundert hat man Fasern aus Brennnesseln gewonnen, die zu festen Stoffen (Nesseltuch), Netzen und Stricken verarbeitet wurden. Aufgrund der mangelnden industriellen Verarbeitbarkeit waren Nesselstoffe später nicht mehr konkurrenzfähig.
1990 hat man eine Varietät der Brennnessel wieder entdeckt (Fasernessel U.d. convaria fibra). Sie wurde züchterisch weiter bearbeitet mit der Zielsetzung, günstige Eigenschaften für die Textilherstellung zu entwickeln.
Bei vielen Hobbygärtnern (und ihren Nachbarn) bekannt ist Brennnesseljauche. Die Wirkung als natürlicher Dünger und biologisches Pflanzenschutzmittel wird sehr geschätzt, auch wenn sich selbst durch verschiedene Herstellungsweisen ein gewisses Maß an „Geruchsbelästigung“ nicht vermeiden lässt.
Zur Stärkung der Abwehrkräfte von Pflanzen kann Brennnesseltee vergossen werden.
Gehackte Brennnesselblätter stellen ein beliebtes Kükenfutter dar. Mit getrockneten Brennnesseln kann man Schweinen, Rindern, Schafen und Geflügel einen wertvollen Futterzusatz bieten.
Kunst und Mythologie
Für Albrecht Dürer war die Brennnessel „eine von Gott geschenkte Pflanze“. Seine Wertschätzung zeigte er in der Darstellung eines Engels, der zum Thron Gottes fliegt - mit einer Brennnessel in der Hand.
Friedrich Rückert beginnt eines seiner Gedichte mit
Wenn ihr an Nesseln streifet,
So brennen sie;
Doch wenn ihr fest sie greifet,
Sie brennen nie.
In Hans Christian Andersens Märchen „ Die wilden Schwäne“ muss die stumme Königin sieben Hemden aus Nesseln anfertigen, um ihre sieben Brüder zu erlösen.
In Victor Hugos „Les Misérables“ kommt ein Mann in ein Dorf mit verarmten Bewohnern. Er lehrt sie, aus der bisher für unnütz erachteten Brennnessel Nahrung, Textilien und Dünger zu gewinnen.
Seit alters her gelten in vielen Ländern stachelige und dornige Pflanzen als Zauberkräuter zur Abwehr von Dämonen, Hexen und Zauberern.
In Island vergrämte man Hexen und Zauberer, indem man mit Brennnesseln um sich schlug.
In Russland hängte man zur Mittsommernacht die Pflanze an Hauseingänge, um die Anderswelt abzuwehren.
In Schleswig wurden Brennnesselsträuße in Ställen aufgehängt, um die Verzauberung des Viehs zu verhindern.
An Johanni werden in manchen Gegenden Brennnesselpfannkuchen gegessen, um Nixen- und Elfenzauber abzuwehren.
In manchen Gegenden isst man am 1. Januar Brennnesselkuchen, in der Hoffnung, dass es ein gutes Jahr wird
Am Gründonnerstag wurden Brennnesseln auf den Dachboden gelegt, um Blitzschlag zu vermeiden.
Zum Teil wird auch heute noch am Gründonnerstag Brennnesselsuppe oder -spinat gegessen, damit im Haus kein Geldmangel herrscht.
In der germanischen Mythologie war die Brennnessel dem Donnergott Donar gewidmet. Wie ein Blitz kann die Pflanze „sengen und brennen“.
Im Mittelalter galt sie als Symbol des schmerzlichen Liebesbrennens und der hoffnungslosen Liebe. Manche peitschten sich mit Brennnesseln, benutzten sie also als „Liebesgeißel“. Brennnesselsamen galten als aphrodisierendes Nahrungsmittel und waren zum Schutz des Keuschheitsgelübdes im Speiseplan von Nonnen und Mönchen strikt verboten.
Brunfels meinte „Wenn sie eheliches Werck treiben, essen sie den samen mit zwiebeln und eys dotteren und pfeffer“ und
Mattiola schrieb „Nesselblätter in Wein gesotten und getrunken, machen zur Liebe feurig, locken zur Unkeuschheit“.
Quellen:
Dörfler, Roselt, Unsere Heilpflanzen, Leipzig/Jena/Berlin 1964, S. 435 – 436
Oberdorfer,E., Pflanzensoziologische Exkursionsflora, Stuttgart 1979, S. 310
Sebald, Seybold, Philippi, Die Farn- und Blütenpflanzen Baden-Würrtembergs Band 2, Stuttgart 1990, S. 61 – 62
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schleswig-holstein.sh/blog/2018/04/05/wildpflanzen-die-große-Brennnessel aufgerufen am 28. 11. 2022
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